Eine Erzählung aus den „Lebendigen Bibliotheken“
der IG Barrieren

Vor vielen Jahren habe ich ein kleines Mädchen kennengelernt. Sie war immer gut gelaunt, wenn ich sie traf. Und neugierig auf die Welt. Als sie die ersten Jahre in der Schule war, kam es immer wieder vor, dass sie sagte: “Das kann ich nicht lesen, dass ist viel zu klein geschrieben.“ Außerdem verwechselte sie immer wieder Buchstaben. Wie zum Beispiel das „d“ und das „b“.

Als erstes sind die Eltern mit dem Kind zum Augenarzt gegangen, um abzuklären, ob sie vielleicht nicht gut sieht. Da war aber nichts zu finden. Ihre Augen sind gesund. Darauf folgte ein Arztbesuch hier und Test da. Letztendlich wurde festgestellt, das Mädchen hat Legasthenie. Diese Diagnose hat sie erst einmal etwas aus der Bahn geworfen. „Ich kann überhaupt nichts. Ich bin nur dumm. Meine Freundinnen haben im Diktat immer fast keine Fehler und ich immer ganz viele. Außerdem können meine Freundinnen viel schneller und besser lesen. Bei mir nutzt es auch nichts, wenn ich zu Hause ganz viel übe.“ So sagte sie und verstand nicht, dass eine Legasthenie nichts mit Intelligenz zu tun hat. Das Mädchen hat so viele andere Talente. In dieser Zeit hat sie sich aber nur auf das fokussiert, was sie nicht kann. Also nur auf einen sehr kleinen Teil von sich.

Zum Glück ist heute eine Legasthenie eine anerkannte Beeinträchtigung. Neben der Leistung in Lese- und Rechtschreibtests werden außerdem die Leistung in einem Intelligenztest für eine Diagnose herangezogen. Sehr oft sind Menschen mit Legasthenie sehr intelligent. Leider können sich viele nicht vorstellen, wie man als Legasthenikerin/Legastheniker Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben haben, und dabei trotzdem auf anderen Gebieten besonders begabt sein kann. Zum Beispiel weiß man aus der Biografie von Albert Einstein, er war auch Legastheniker, dass er sich alle Theorien bildhaft vorgestellt hat.

Das Mädchen, von dem ich hier erzähle, bekam dann professionelle Hilfe, das heißt, professionelle Förderung speziell für Legastheniker. Im Zusammenhang mit dieser Förderung bekommen diese Kinder eine Bescheinigung, die sie in der Schule vorlegen. Damit werden für sie Lese- und Rechtschreibfehler anders bewertet als bei den übrigen Schülerinnen und Schülern. Durch diese professionelle Hilfe ist die Legasthenie bei dem Mädchen zwar nicht verschwunden, sie hat aber gelernt damit umzugehen. Und was noch viel wichtiger ist: Sie hat ihr Selbstvertrauen wiedergefunden.

Viele Jahre später, da war sie schon lange auf dem Gymnasium, haben wir uns wieder unterhalten. Da hat sie mir eine Geschichte erzählt: Drei Jungen aus ihrer Klasse fühlten sich ganz besonders stark. Einer von ihnen hat sie blöd angemacht. „Hi hi hi, du kannst ja immer noch nicht richtig schreiben.“ Die Retourkutsche von ihr kam prompt. „Dafür gibt’s ’nen Schein, für Dummheit nicht“, platzte es aus ihr heraus. Damit waren nun die Jungen die Lachnummer. Klasse, Mädel, jetzt hast du es kapiert, jetzt hast du es verstanden, dachte ich bei mir. Heute ist das Mädchen eine liebenswerte, selbstbewusste junge Frau geworden. Sie ist Klassensprecherin und Jahrgangssprecherin an ihrer Schule. Sie spielt Gitarre und singt in ihrer Schulband. Demnächst steht das Abi an. Sie hat verstanden, dass sie so richtig ist. Genau so, wie sie ist, ist sie richtig. Als ich sie fragte, ob ich ihre Geschichte erzählen darf, hat sie sich bei mir bedankt und gesagt: Endlich wird über dieses Thema auch mal gesprochen.

N.N.

Dies ist eine der Erzählungen der „Lebendigen Bibliotheken“, gesammelt und aufgeschrieben vom Team der IG Barrieren und mit dem Einverständnis der Erzählenden veröffentlicht.

Wenn auch Sie uns eine Geschichte aus Ihrem Leben erzählen wollen, sind Sie herzlich dazu eingeladen. Kommen Sie zu unseren Treffen der IG Barrieren. Unser nächstes Treffen ist am 4. Mai 2022 um 19 Uhr im Saal von St. Bonifatius in der Untergasse 27 in Steinbach (Taunus).

Sprecherin/Sprecher der IG Barrieren sind Traute Salzmann und Rolf Leipold.
E-Mail IG-Barrieren: IG-Barrieren@stadt-steinbach.de